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20 Jahre Brandanschlag von Solingen Rassismus tötet

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Demonstration im Juni 1993 am Tatort des Brandanschlags von Solingen (Quelle: Wikimedia/Creative Commons Lizenz /Sir James)

Solingen hat sich wie Rostock-Lichtenhagen oder Mölln ins kollektive Gedächtnis gebrannt, Ortsmarken eines unvorstellbaren Rassismus, der Menschenleben gefordert hat – und auch jene veränderte, welche selbst eine Migrationsgeschichte haben und die Ereignisse nur in den Medien verfolgten. So wie Martin L. aus Berlin:

Ich werde mich immer an die Fernsehbilder aus Solingen erinnern. Als der Brandanschlag passierte, war ich zwölf Jahre alt. Bei uns zu Hause wurde der Fernseher normalerweise nicht für die Nachrichten eingeschaltet, stattdessen liefen „Dallas“ oder andere Serien. Aber bei Solingen war das anders. Meine Familie hat den viel zitierten Migrationshintergrund, wir alle fühlten uns persönlich betroffen. Und so saßen wir vor dem Fernseher und sahen die Bilder des vom Feuer verwüsteten Hauses – ich musste bei dem Anblick des ausgebrannten Dachstuhls an einen Zahn denken, an einen kariösen Zahn. Warum kann ich gar nicht sagen.

Gürsün Ince

Hatice Genç

Gülüstan Öztürk

Hülya Genç

Saime Genç

Fünf Menschen sterben am 29. Mai 1993 in den Flammen oder an den Folgen des Brandes, den vier junge Neonazis in der Unteren Wernerstraße 81 im nordrhein-westfälischen Solingen legen. Das Motiv der vier Täter: Ausländerhass und Rassismus. Drei Tage zuvor hatte der Deutsche Bundestag mit der Einführung der sogenannten Drittstaatenregelung das Grundrecht auf Asyl in Deutschland faktisch abgeschafft – nach einer hysterischen und unverantwortlich geführten Debatte, in der immer wieder von einer angeblichen „Überfremdung“ des Landes und einer „Asylantenschwemme“ die Rede war.

Den Streit um die Flüchtlinge oder Asylanten haben wir damals gar nicht verfolgt. Das ging uns irgendwie nichts an – meine Familie war eher unpolitisch und mit Flüchtlingen haben wir uns nicht identifiziert. Meine Schwester und ich waren ja in Deutschland geboren worden und meine Mutter schon Jahrzehnte zuvor eingewandert. Außerdem fühlten wir uns in Berlin sicher – Berlin, die Großstadt! Natürlich hat uns die ein oder andere Oma ein wütendes „Scheiß-Ausländer“ zugezischelt, das erste Mal, als ich etwa fünf Jahre alt war. Aber das gehörte für uns irgendwie dazu, manchmal fanden wir es sogar lustig. Das änderte sich mit Solingen.

Solingen markiert den Höhepunkt einer rassistischen Gewaltwelle, in deren Verlauf Amadeu Antonio Kiowa aus Eberswalde zu Tode geprügelt wird, ein Mob gewaltbereiter Bürgerinnen und Bürger die Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende und ein Wohnheim für vietnamesische Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in Rostock-Lichtenhagen attackiert und ein Brandanschlag auf zwei, von türkischen Familien bewohnte Häuser in Mölln verübt wird – nur drei Beispiele für eine ganze Reihe von Verbrechen.

Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen – die Ortsnamen sind zu Chiffren für die rassistische Gewalt jener Zeit geworden. Und zu Wegmarken eines gesellschaftlichen Klimas, das sich etwa darin zeigte, dass der damalige Ministerpräsident Bayerns Edmund Stoiber (CSU) meinte, das Asylrecht müsse zu einem „abstrakten Grundrecht“ werden. Oder aber darin, dass es der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) ablehnte, an nur einer Trauerfeier teilzunehmen. Er habe „weiß Gott anderen wichtigen Termine“, so sein Regierungssprecher Dieter Vogel. Man werde nicht „in Beileidstourismus ausbrechen“.

Solingen hat dazu geführt, dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben – mit meinem ausländischen Aussehen – unsicher in Deutschland gefühlt habe. Und nicht nur ich: In den folgenden Monaten wurde meine Mutter übervorsichtig, meine Schwester und ich durften am Nachmittag kaum noch alleine irgendwo hin. Dabei habe ich mich vorher nie als Ausländer gefühlt, bin es ja auch eigentlich nicht, aber dass ich so wahrgenommen werde – und was das für Folgen haben kann – das hat mir Solingen gezeigt.

„Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch.“ Diesen Satz liest Heiko Kauffmann, der Vorsitzende von Pro Asyl, auf einer Hauswand auf dem Weg zum Tatort in Solingen. Treffender lässt es sich kaum sagen.

In zahlreichen deutschen Städten bilden die Menschen in der Folge Lichterketten gegen Ausländerhass, fordern ein entschiedeneres Eintreten der Politik gegen Rechtsextremismus und die Einführung der deutschen Staatsbürgerschaft – ohne Erfolg.

Meine Mutter hatte schon Jahre vor Solingen ihre alte Staatsbürgerschaft aufgegeben und die deutsche angenommen – sie war stolz darauf. Eine ganze Zeit später habe ich sie gefragt, ob sie sich jemals die doppelte Staatsbürgerschaft gewünscht hätte. Damals, als es so viele Überfälle aus Ausländer gab, habe sie sich das tatsächlich gewünscht, war ihre Antwort. Auf meine Nachfrage meinte sie: „Weil ich das Gefühl gehabt hätte, eine Notversicherung zu haben, falls es noch schlimmer wird.“

18 Monate dauert der Prozess gegen die vier Täter von Solingen. Sie werden vom Oberlandesgericht Düsseldorf wegen fünffachen Mordes, mehrfachem Mordversuch und schwerer Brandstiftung zu langjährigen Haftstrafen zwischen zehn und 15 Jahren verurteilt. Im Laufe des Verfahrens kommen schwerwiegende Ermittlungsfehler und Behördenversagen ans Tageslicht.

Ermittlungsfehler? Behördenversagen? Diese beiden Begriffe las und hörte man zuletzt vor allem im Zuge der Aufarbeitung der NSU-Mordserie. Es scheint, als ob die schrecklichen Anschläge von Solingen, Mölln und alle anderen Verbrechen jener Zeit eben nicht zu einem Umdenken geführt haben. Stattdessen gibt es immer noch strukturellen und institutionellen Rassismus. Und wieder wird eine Debatte geführt über „kriminelle Flüchtlinge“ und eine „Asylantenwelle“, die dieses Mal vor allem um Sinti und Roma kreist. Angesichts dieser Beobachtungen und Befunde verwundert die Besonnenheit von Mevlüde Genç , die die Brandnacht von Solingen überlebt hat. 15 Jahre danach erklärte sie in einem Interview mit dem Spiegel: „Ich trage eben keinen Hass in mir. Wenn man es genau nimmt, hasse ich genau vier Menschen auf dieser Welt. Nämlich die vier, die mein Haus angezündet haben.“ Obwohl sie fünf Familienmitglieder verlor, tritt sie für ein friedliches Miteinander ein: „Alle anderen Menschen verdienen Respekt und Liebe. Und die bekommen sie von mir. Es sind doch nicht alle Deutschen schlecht, weil vier von ihnen mein Haus und mein Leben verbrennen. Nein, wir müssen respektvoll miteinander umgehen, sonst macht das doch alles keinen Sinn.“

Natürlich denke ich nicht jeden Tag an Solingen. Aber was damals passiert ist, hat etwas in mir verändert. Vorher habe ich nie in Frage gestellt, dass ich Deutscher bin. Aber seither beziehe ich jeden schiefen Blick auf mein ausländisches Aussehen. Und ich höre ganz genau hin, was zum NSU gesagt wird, auch von Freunden. Ich merke: So ganz können die ohne Migrationshintergrund nicht verstehen, was die Taten des NSU mit einem machen. Ich habe mich nie als Ausländer gefühlt – bin es ja auch nicht. Aber Solingen und alle anderen dieser Verbrechen machen mich zu einem.

Alle kursiven Textteile: Martin L., 32 Jahre aus Berlin, Student.

Mehr Informationen:

„Es sind doch nicht alle Deutschen schlecht“ (Mut gegen rechte Gewalt)“Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch“ (Süddeutsche Zeitung)Der Brandanschlag von Solingen. Auswirkungen und Konsequenzen (2001, SOS-Rassismus Solingen, PDF)

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